Stark Vital Nr. 1

Werner Kieser Kolumne

Altern - eine Frage der Biologie oder der Kultur?

Man hat uns beigebracht: Wir sollen die Alten schonen, aufstehen in der Tram, in den Mantel helfen, Rollator bezahlt selbstverständlich die Kran kenkasse, und so weiter – das sind Kulturbestandteile. So sind wir höflich – aber wir schonen die Alten zu Tode. Hilfe zu Selbsthilfe wäre hier ange zeigt: den Alten vermitteln, wie sie ihre Kraft erhalten oder wiedergewin nen können. Das ist kein Votum gegen Höflichkeit. In vielen Fällen, wo eben Selbsthilfe (noch) nicht möglich ist, ist Hilfe oder auch ein Rollator unum gänglich. Also, wie können wir die Evolution etwas austricksen? Mit der Ernäh rung? Mit Sport? Entspannungsübun gen? Meditation? Oder von allem etwas? Nun, bei den Empfehlungen zur Ernährung beginnen schon die Schwierigkeiten. Es gibt Völker, die sich vegetarisch, ja vegan, ernähren und sich durch Langlebigkeit und körperliche Leistungsfähigkeit aus zeichnen, beispielsweise die Hunzu kuc in Pakistan. Dieselben Merkmale zeigen die Inuit, Völker, die im nörd lichen Polargebiet leben, sich aber weitgehend von tierischen Produkten ernähren, also Fett und Eiweiss. Die Evolutionsforschung geht davon aus, dass der Homo sapiens ein „Allesfres ser“ ist, bedingt durch die ungeheu ren Zeiträume, in denen er die unter schiedlichsten Klimata überlebte.

Die biologische Erklärung des Alterns ist einfach: Während Sie diesen Artikel lesen gehen tausende von Zellen Ihres Körpers zugrunde. Gleichzeitig werden Tausende aufgebaut. In der Jugend überwiegen die Aufbauprozesse - wir wachsen. Im Alter überwiegen die Abbauprozesse - wir sterben. Nach dem wir unsere Gene weitergegeben haben - so etwa ab 25 - beginnt schon der Abbau. Muskeln und Knochen dichte nehmen ab. Offensichtlich hat die Evolution kein „Interesse“ daran, dass wir unsere Reproduktion allzu lange überleben. So, das war die schlechte Nachricht. Was man lange nicht erkannte: Auf bauprozesse lassen sich auf Kosten der Abbauprozesse stimulieren. Diese Erkenntnis ist nicht alt. In den Neun zigerjahren setzte Maria Fiatarone - eine Professorin für Geriatrie - eine Gruppe 86-96-Jährige 12 Wochen auf ein Krafttrainingsprogramm für die Oberschenkel. Die Erfolge waren dra matisch. Durchschnittswerte: Kraftzu wachs 174%, Muskelmassezuwachs (computertomographisch festgestellt) 9%, Gehgeschwindigkeit (ohne Geh- oder Dehnübungen) 48%! Selbst unter Fachleuten provozierten damals diese Daten die ketzerische Frage: Wie kommt das? Solche Werte erzielen nicht einmal Jugendliche? Die Antwort ist einfach: Weil die Proban den so schwach waren! Je schwächer, desto grösser und rascher der Trai ningsfortschritt.

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