StarVital Nr 36

Die Zukunft aufbauen Es gibt einige unglaubliche Tänzer:innen, die noch mit 60 Jahren und darüber hinaus auftreten. Ein Beweis dafür, dass kulturell bedingte Zeitvorgaben und Stereotypen will kürlich sind. Vor allem Tänzer:innen um die 40, die in ihrem letzten Jahrzehnt den erwarteten «Übergangspunkt» über schritten haben, können als Brücke dienen zwischen dem, was vorausgesagt wird, und dem, was möglich ist. «Jetzt, in meinen Vierzigern, bin ich auf dem Höhepunkt meiner Kräfte.» Sonia Rodriguez (Kanada) Wenn es dann wirklich zu einem Ende der Ballett-Karriere kommt, ist es am schwierigsten, die eigene Identität neu zu überdenken, denn das Ballett war das Ein und Alles, und plötzlich verschwindet es aus dem Leben wie viele Profisportler:innen bezeugen können. Depressionen lau ern, wenn von einem Tag auf den anderen die Leere ent steht. Es wird viel getrauert. Contemporary Dance ist im Vergleich dazu freier und weniger anspruchsvoll und kann für eine gewisse Zeit eine realistische Alternative werden. «Es ist schwierig, den schmalen Grat zwischen der Herausforderung meines Körpers und der Vermei dung von Überforderung zu finden.» Wendy Perron (USA) Was bedeutet es, in einer jugend orientierten Welt ein Senior zu sein? «Ich bin jetzt eine ältere Tänzerin. Die Rechnung ist ein deutig. Nach 30 Jahren in meinem Beruf bin ich weni ger als zwei Jahrzehnte von meinem 70. entfernt. Über raschenderweise ist es einfacher - nicht schwieriger - in diesem älteren Körper zu tanzen. Ich habe das Glück, dass es gut funktioniert. Ja, es gibt Schmerzen, aber die gab es schon immer. Ich muss mit meiner Energie sorgsam umgehen, kann mich nicht mehr so sorglos in die Luft werfen wie in meinen 20ern. Ich achte mehr auf die Beson derheiten dessen, was ich tue. Ich weiss besser, wie mein Körper funktioniert, bin freundlicher zu seinen Eigenheiten. Hemmungen verschwinden. Beim Tanzen geht es mehr um das Wie und weniger um das Wow. Es macht Freude. Das Mindesthaltbarkeitsdatum des Körpers ist verlängert worden - und der Tanz verlängert sich mit ihm.» Sara Porter, Tänzerin und Choreografin (Kanada) Danse Transition, die Zukunft neu gestalten Ist ein Berufswechsel unvermeidlich? Wenn tatsächlich eine gewünschte Neuorientierung erfolgen soll, kann Danse Transition helfen. Der gemeinnützige Verein mit Sitz in Lausanne scheint nicht auf einen Gesinnungs wandel in diesem Umfeld zu setzen, sondern hält eher an der Idee fest, die Bühne frühzeitig zu verlassen, etwa Mitte

30, nur in Ausnahmefällen über das 45. Lebensjahr. Der Ver ein bietet unter anderem individuelles Coaching und organi siert Treffen für Tänzer:innen, die sich im Übergang zu einem neuen Beruf befinden. Doch es sei wichtig zu wissen, dass es ein Leben danach gebe. Danse Transition hilft, die Hürde der beruflichen Neuorientierung erfolgreich zu meistern. Berühmte Wegbereiter:innen Die Londoner Royal Academy of Dance erinnert daran, dass die Britin Margot Fonteyn sich 1979 an ihrem 60. Geburtstag von der Szene zurückzog, fast 45 Jahre nach ihrem Debüt. Sie galt als die grösste Ballerina aller Zeiten, deren tadellose Technik und überzeugende Bühnenpräsenz ebenso legendär waren wie ihre Langlebigkeit und Arbeitsmoral. Das Alter hat sie nie beunruhigt, im Gegenteil, die Britin half, die Alters grenze zu durchbrechen - zumindest in ihrem Fall. Der russische Mikhail Baryshnikov (1948) war ein echter Superstar. Doch als das Ballett seinen Körper zu strapazieren begann, wechselte er zum modernen Tanz, um seine Karri ere zu retten. Im Alter von 65 Jahren tanzte er immer noch, obwohl er sein Repertoire anpasste - von einem ausgezeich neten Springer wurde er zu einem dramatischen Darsteller. Die Italienerin Carla Fracci (1936-2021) gilt auch als eine der grössten Ballerinen des 20. Jahrhunderts. Sie tanzte ein letztes Mal im Alter von 64 Jahren an der Mailänder Scala. «Das Ballett ist ein geheimnisvoller Beruf, der eine unberechenbare und unvorhersehbare Welt darstellt.» Carla Fracci (Italien) Rebellion gegen ein diskriminierendes System Als das National Ballet of Canada Ende der 1990er Jahre die Entlassung der Solistin Kimberly Glasco aus nicht künstlerischen Gründen rechtfertigen wollte, behauptete es, sie sei mit 38 Jahren zu alt und habe ihr bestes Lebensalter überschritten. Die Ballerina reichte eine Klage wegen unge rechtfertigter Entlassung ein, die Berichten zufolge ausser gerichtlich in Höhe von 1,6 Millionen Dollar beigelegt wurde. Die Gerichte gaben ihr das Recht, in das National Ballett zurückzukehren, nachdem sie festgestellt hatten, dass das Alter sie nicht verkümmern, sondern im Gegenteil stärker werden liess. Ein durchschlagender Präzedenzfall. «Wir befinden uns mitten in einer neuen Welle der Wertschätzung für ältere Tänzer:innen. Zurzeit überwinden mehrere Super stars die Altersgrenze.» Wendy Perron (USA) Der Kampf älterer Tänzer:innen 40+, ihren Beruf länger auszuüben, spiegelt den berechtigten Willen, ihre Würde zu wahren oder zurückzugewinnen, in einer Gesellschaft, die gemeinsam mit ihnen altert.

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