StarVital Nr 36

Ballett und Tanz Die Diktatur der Perfektion Altersdiskriminierung auf der Bühne Plié, battement, relevé, arabesque, attitude, pirouette... Stundenlange Übun gen an der Stange, dann Freiübungen, Diagonalen, Kräftigungsübungen am Boden und schliesslich Stretching. Jeden Tag wiederholt sich das gleiche nach einer strengen Logik aufgebautes Programm, das permanente Mus kelanspannung, volle Konzentration und Präzision erfordert. Die klassischen Tänzer:innen, die wir in den Theatern bewundern, haben schon immer trai niert, seit ihrer Kindheit, und dabei einen Grossteil ihrer Zeit bedienungslos dieser sehr anspruchsvollen körperlichen Kunstform gewidmet. Denn wenn das Talent zum Ausdruck kommt und die Leidenschaft erwacht, ist die Zeit reif, das Training zu intensivieren, was immer Verzicht und Beständig keit erfordert - Ballett kennt keine Kompromisse. Neue Freundschaften werden geschlossen und gleichzeitig entsteht Kon kurrenz zwischen einzelnen Tänzer:innen, die bis zum offenen Krieg führen kann. Hand in Hand mit der Zunahme des körperlichen Engagements können Schmerzen und Beschwerden durch Überlastung auftreten, die oft ohne Trai ningsunterbrechung behandelt werden und sich so über die Zeit hinziehen. Der Zeitpunkt des Übergangs Vor allem aus diesen Gründen ist eine Ballettkarriere, wie jeder Profisport mit seinen körperlichen Anforderungen, oft zeitlich begrenzt. In der Tat enden die meisten Ballettkarrieren Mitte der 30er Jahre. Die Altersgrenze für eine Primaballerina an der Pariser Oper liegt bei 42,5 Jahren! Das ist zumindest eine interne Regel, die das Ende der Tätigkeit so genau festgelegt hat. Warum 42,5? Um die angebliche Gleichstellung von Männern und Frauen zu fördern, wurde das Rentenalter als Durchschnitt der beiden festgelegt, denn vorher waren es 45 für Männer und 40 für Frauen. Offiziell gibt es in anderen Bal lettkompanien, auch in anderen Ländern, keine vorbestimmten Altersgrenzen. Zumindest auf dem Papier. In Italien beispielsweise liegt das Renteneintrittsal ter für professionelle Tänzer:innen bei 47 Jahren (für beide Geschlechter), was nicht unbedingt bedeutet, dass dieses Alter das Ende ihrer Karriere bezeich net, sondern eher dass sie ab diesem Zeitpunkt Anspruch auf eine Altersrente haben, da ihre Arbeit als körperlich belastend angesehen wird. Einigen Statistiken zufolge liegt das durchschnittliche Ende der Karriere für Balletttänzer:innen international insgesamt bei 29 Jahren und für moderne Tänzer:innen etwas später, bei etwa 40 Jahren. Für Ballettänzer:innen ist von Anfang an klar, dass sie sich früh von der Bühne zurückziehen wer den (müssen) - Mitte dreissig oder spätestens um die 40 Jahre - und sich danach einer zweiten Karriere widmen müssen. Genau das wird von ihnen erwartet, denn es wird allgemein angenommen, dass dies der Zeitpunkt ist, an dem der Körper müde wird und eine neue frische Generation die 30-Jäh rigen zeitgerecht ersetzen muss. Sogar die Medien verbreiten meistens das gängige negative Narrativ, dass Ballettänzer:innen eine kurze berufliche Lebenserwartung hätten. Für viele Betroffenen hat diese Einstellung mit gesellschaftlicher Engstirnigkeit zu tun. Die Aussenwelt hat den Eindruck, dass Tänzer:innen sich nur bis zu einem bestimmten Alter als Profis präsentieren können, wie beim Fussball oder Bas ketball. Für die Zeit danach gäbe es noch viele Alternativen, zum Beispiel die Umstellung auf eine neue Aufgabe wie Ballettlehrer:in oder Choreograph:in, oder die Aufnahme eines neuen Studiums. Genauso nutzen viele tatsächlich ihr vorhandenes Wissen über den Umgang mit dem Körper und landen in den Gesundheitsberufen, wo sie Therapeut:innen werden. «Wenn du diesen Job machst, bringst du deinen Körper an die Grenzen.» Roberto Bolle (49, Italien)

Ist das chronologische Alter tat sächlich heute noch ein Urteil, dem man nicht entkommen kann? Die gewöhnlichen Vorstellungen vom Ballett lassen ältere und erfahrene Tänzer:innen im Stich. Doch sie kön nen noch dabei sein wie heute viele Beispiele zeigen. Viele Interpret:innen kämpfen darum, in der Szene zu blei ben, sie spüren, dass sie noch viel zu bieten haben, sowohl auf rein techni scher Ebene als auch im künstlerischen Ausdruck. Die Reife bietet zahlreiche Aspekte, nicht nur in psychologischer Hinsicht, die nicht zu unterschätzen sind, wie extreme Körperbeherrschung, Präzision, Ausdrucksfähigkeit. Viele haben im Laufe der Jahre ein besse res Verständnis für ihr körperliches Ins trument entwickelt und wissen genau, wie sie ihre Kräfte einsetzen können und wo ihre Grenzen liegen. Es ist Fein arbeit. Physiotherapeuten, Masseure, Chiropraktikern und sogar Orthopä den stehen auf jeden Fall bereit, um auf die besonderen Bedürfnisse älterer Tänzer:innen einzugehen.

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STARKVITAL 60+ Nr. 36

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