StarkVital No 40
Gesell schaft
In unserer modernen Gesellschaft ist Einsamkeit ein weit verbreitetes, unsichtbares und stilles Problem. Trotz stän diger digitalen Verbindung fühlen sich immer mehr Men schen von anderen entfernt, denn virtuelle Beziehungen können das angeborene menschliche Bedürfnis nach Ver bindung nicht befriedigen. In der Hektik des modernen Lebens, vor allem in Grossstädten, sind Begegnungen und sinnvolle Beziehungen eingeschränkt, der Individualismus grassiert. Singles sind auf dem Vormarsch. Im Laufe der Geschichte war dennoch unsere Fähigkeit uns aufeinander zu verlassen, entscheidend für unser Überleben. Was geschieht mit Menschen, wenn sie stän dig einsam sind? Wissenschaftler sagen, wenn wir älter werden, kommt es bei uns allen zu einer Atrophie des Gehirngewebes, der grauen und weissen Substanz. Bei Einsamkeit beschleu nigt sich dieser Prozess, was zu einem höheren Risiko für neurodegenerative Erkrankungen, Demenz und kognitiven Abbau führt. Eine alarmierende Tatsache. Das Gutachten des U.S. Surgeon General hat entsprechende Daten im Bericht Our Epidemic of Loneliness and Isolation erfasst. In dem Bericht heisst es, dass soziale Isolation und Einsamkeit zwar zusammenhängen, aber nicht dasselbe sind. Soziale Isolation bedeutet objektiv, dass es nur wenige soziale Beziehungen, soziale Rollen, Grup penmitgliedschaften und seltene soziale Interak tionen gibt. Einsamkeit ist hingegen ein subjektiver erlittener innerer Zustand. Fehlende soziale Kontakte können das Risiko eines vorzeitigen Todes genauso stark erhöhen wie das Rauchen von bis zu 15 Zigaretten pro Tag. Der Alarm kommt auch von der Weltgesundheitsorganisa tion WHO, die beschlossen hat, die Einsamkeit zu einem globalen Problem der öffentlichen Gesundheit zu erklären und als gesundheitliche Priorität betrachtet werden. Die ehemalige Premierministerin von Grossbritannien Theresa May stellte die erste Einsamkeitsstrategie der Regierung um. Im Rahmen des National Health Service NHS wurden Mittel bereitgestellt, um das Problem, unter dem vor allem ältere Menschen leiden, konkret anzu gehen. Seit 2018 hat Grossbritannien einen Minister for Loneliness . In der Tat einem Bericht der Jo Cox Commis sion on Loneliness zufolge fühlten sich mehr als 9 Millio nen Menschen in Grossbritannien, etwa 14 Prozent der Bevölkerung, oft oder immer einsam. Das Social Prescribing Eine durchdachte Antwort ist das Social Prescribing , eine Praxis in Grossbritannien, die es den Hausärzten ermög licht, ihre Patient:innen an Sozialarbeiter auf Gemeinde ebene zu verweisen, die massgeschneiderte Unterstützung im lokalen Kontext anbieten, um den Menschen zu helfen, ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden zu verbessern, anstatt auf Medikamente zurückzugreifen. Patient:innen wird nach den eigenen Neigungen und Bedürfnissen eine Vielzahl von Aktivitäten wie Kochkurse, Wanderclubs, Kunstgruppen und Schachspiel vermittelt, wodurch die Inanspruchnahme des Gesundheitssystems reduziert und die Lebensqualität der Teilnehmenden verbessert werden soll. Ein Projekt gegen Einsamkeit Ein Zustand, der krank macht
Das Frome-Projekt Die englische Allgemeinmedizinerin Dr. Helen Kingston rief 2013 das Projekt Frome Model of Enhanced Pri mary Care , auch bekannt als Compassionate Frome , ins Leben, um Patient:innen zu helfen, deren Probleme mehr als nur Medikamente erforderten. Das Projekt, das nach der Stadt Frome in Somerset benannt ist, nutzt bestehende soziale Netzwerke, um die Gesundheit der an Einsamkeit leidenden Bürger:innen zu verbessern. Das Projekt erfasst sogar über 400 Dienstleistungen und Aktivitäten in der lokalen Gemeinschaft. Mit Unterstützung des Stadtrats von Frome konnte einen ehrenamtlichen Koordinator ernannt werden, der ein Schulungsprogramm für interessierte Gemeindemitglie der aufstellte, um diese zu Community Connectors aus zubilden, deren Zahl 700 erreicht hat. Jeder Community Connector kann eine Person betreuen oder je nach Fall kontaktieren, wenn sie allein zu sein scheint. Café-Besit zern, Taxifahrern und anderen Einwohnern wurde beige bracht, wie sie ihre Freunde und Nachbarn über kommu nale Gruppen, auf die man sich nicht beruft, und Dienste informieren können, die oft nicht genutzt werden, weil die Menschen nicht wissen, dass sie existieren. Der Ruf von Frome hat sich inzwischen zu einer unge wöhnlich freundlichen und fürsorglichen Gemeinde gewandelt. Dr. Kingston erhielt für diese Praxis finan zielle Mittel vom National Health Service. 94 Prozent der Patient:innen fühlen sich besser in der Lage, ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden zu steuern. Kosteneinsparungen im Gesundheitswesen Die sozialen Vorteile des Frome-Modells führten u.a. zu einem bemerkenswerten Rückgang der Gesundheitskos ten. In der Stadt sanken in kurzer Zeit die Krankenhausein weisungen sowie die Notfallaufnahmen (minus 14 Prozent von 2013 bis 2017). “Was mich persönlich betrifft, so hat mich unser Projekt geprägt. Die Verbundenheit hilft uns allen. Gemeinsam sind wir stärker, und unser Team gibt mir Zuversicht und Energie, um weiterhin zu versuchen, etwas zu bewirken. Ich schöpfe Kraft, wenn ich sehe, welche Auswirkungen unser Projekt auf das Leben meiner Patient:innen hat.» „Durch den Aufbau einer besser vernetzten Gemeinschaft profitieren wir alle davon.» .
Helen Kingston
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STARKVITAL 60+ Nr. 40
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