StarVital Nr 36

Inter view

Beweg dich, Boomer! Jean-Pierre Schupp im Gespräch mit Benita Cantieni

JPS: Wieviel Training braucht ein 70-jähriger Mensch Ihrer Meinung? BC: 24/7 ... 24 Stunden, 7 Tage in der Woche. Ich sehe oft, wie sich Menschen für eine Trainingsein heit aufraffen, um nach den 30 Minuten wieder in sich zusam men zu sinken. Mein Training will mehr. Es will die Alltagshaltung verändern, die Art, wie du sitzt, gehst, liegst, rennst, schwimmst, tanzt. CANTIENICA ® Körper in Evolution versteht sich als War tungsprogramm, als Grundlage für alles, was Gesundheit am Bewegungsapparat ausmacht, Flexibilität, Kraft, Resilienz und – Bewegungsfreude, Bewegungs lust. Ein gesunder Körper will sich bewegen, so, wie er schla fen will, essen, trinken, lachen. Um die neuen Muster zu lernen und zu üben, empfehle ich zwei konzentrierte Trainingseinheiten pro Woche und ganz viele Mini trainings im Alltag. JPS: Zwei intensive Trainingsein heiten, nehme an je 20-30 Minu ten? Klingt zu schön, um wahr zu sein. Kann ein Mensch über 70 diese Körperlichkeit überhaupt noch erreichen?

JPS: Sie haben ein Buch explizit für die Boomer-Generation geschrie ben, also für die über 65-Jährigen. Das ist gut und wichtig. An erster Stelle kommt bei Ihnen Beweglich keit, nicht Kraft. Wieso? BC: Kraft und Beweglichkeit sind aus meiner Sicht gleichermassen wichtig. Weil im Krafttraining meis tens wirklich nur die direkte Mus kelkraft trainiert wird, breche ich eine Lanze für die Beweglichkeit. Beweglichkeit kommt aus sortierten Knochen mit offenen, aktionsbe reiten Gelenken. Die Gelenke sind alle in Tiefenmuskulatur eingebettet, also die Muskeln, die den Knochen am nächsten sind. In vielen klassi schen Krafttrainings werden diese knochennahen und gelenkhalten den Muskeln vernachlässigt. Für Resilienz im Alltag ist Beweglichkeit unendlich wichtig. Wenn ich stürze, schützt mich die Beweglichkeit mehr als die Kraft. JPS: Eine kühne Behauptung. BC: Ein Beispiel aus meiner Erfah rung. Ich jogge fröhlich vor mich hin. Sehe einen Nachbarn von wei tem winken. Ich winke zurück, passe nicht auf, stolpere eine Stufe hoch, stürze, drehe mich im Sturz so, dass

Benita Cantieni Foto: Claudia Larsen

BC: Ich trainiere zweimal pro Woche eine Stunde. Und im Alltag achte ich auf Qualität in jeder Bewegung, in jedem Schritt. Und – ich bin eine Spätzünderin. Bis 43 war ich ein Mehlsack, unbeweglich, kraftlos und krumm. Wer sich in der Kindheit und Jugend viel und gern bewegte, hat das Pro gramm in den Knochen und Muskeln. Sie, die Knochen und Muskeln, haben ein Gedächtnis. Ich musste und muss für meinen Alterskörper arbeiten, diszipliniert und determiniert. JPS: Das leidige Thema Motivation. Wie überliste ich meinen sprichwörtlichen inneren Schweinehund? BC: Der Schweinehund ist eigentlich ein kluger Kerl. Er schweinelt, wenn ihm nicht passt, was ich ihm abverlange. Mein Schweinehund mag mein Training, er schnurrt fröhlich vor sich hin, wissend, wie gut er sich nach dem Training füh len wird. Schweinelig ist eigentlich nur der Einstieg. Meine Methode lebt davon, dass Sie sich wirklich auf Ihren Körper einlassen, dass Sie das Wunder, das Sie lebt, kennenlernen wollen. Das braucht am Anfang Achtsamkeit und Disziplin, wie alles Erlernen von Neuem. Wenn Sie eine neue Sprache oder das Spielen eines anspruchsvollen Instruments erler nen wollen, so ist der Anfang auch herausfordernd. JPS: Disziplin. Ich höre von vielen Senior:innen, dass sie keine Lust mehr auf Disziplin haben. «Ich habe mich mein ganzes Leben angestrengt, nun will ich geniessen». Was ant worten Sie? BC: Erst schlucke ich leer. Und dann frage ich zurück: Sind deine Nackenschmerzen, Kopfschmerzen, Knieschmer zen, Rückenschmerzen, Fussschmerzen ein Genuss? Ist die Hüftoperation mit den Schmerzen und der Reha ein Genuss?

ich nicht aufs Gesicht falle. Die Sitzbeinhöcker ziehen sich automatisch zusammen und schützen so die Hüftgelenke. Die Sprunggelenke drehen sich in die optimale Position. Die Brustwirbelsäule dreht sich an Ort. Das Handgelenk bringt sich in Sicherheit. Ich lande seitlich auf dem Popo. Ausser einem blauen Fleck und der Verwunderung über die Unacht samkeit bleibt nichts. Das kann der Körper nur, wenn die entscheidenden Muskeln, Faszien und Sehnen trainiert sind. JPS: Auch junge Menschen können stürzen. BC: Richtig. CANTIENICA ® Körper in Evolution funktioniert für Junge genauso wie für Ältere und Alte. Ich bin jetzt 74 und erlebe fast täglich, wie sich Gleichaltrige alt reden und alt reden lassen. «In meinem Alter bringt das nichts mehr», «da kann man nichts machen», «man ist halt nicht mehr 20». Das sind Glaubenssätze, die den Abbau im Alter extrem beschleunigen. An diesen Glaubenssätzen rüttle ich, und ich kann vorzeigen, wie es geht und dass es funktioniert. JPS: Sie zeigen die Übungen selbst in Ihrem Buch und machen tatsächlich den Spagat. Frage: Ist das Eitelkeit? Anschlussfrage: Wie lange haben Sie für den Spagat geübt? BC: Ich brauchte tatsächlich viel Überwindung, um die Übungen selbst vorzumachen. Aus Eitelkeit, ich bin kein Model, hatte nie und habe keine Modelmasse. Doch habe ich in meinem Team keine Trainerinnen oder Trainer in mei nem Alter, die sich das zutrauten. Und eigentlich finde ich es anständig, den Beweis anzutreten: Ich bin mit 74 beweg licher und fitter als mit 20. Zum Spagat: Ich habe ihn nie geübt, sondern einfach eines Tages festgestellt: Geht. Prob lemlos. Bisschen vorwärmen und rein in den Spagat. Diese Fähigkeit schützte mich auch schon auf Glatteis.

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STARKVITAL 60+ Nr. 36

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