FT 106 - Jahr 2007
Krankenkassenwesen – Verbesserung durch Entsolidarisierung? Paul Eigenmann / Geschäftsführer QUALITOP Eine Fitnesskrankenkasse mit überwiegend gesunden Menschen (= guten Risiken) käme der Aufgabe des Solidargedankens, dass die Gesunden für die Kranken bezahlen, gleich. Eine solche Krankenkasse wäre zwar mit Sicherheit billig – zumindest kurzfristig. Langfristig ist die Entsolidarisierung aber eine Sackgasse. Solidargemeinschaften haben Grenzen… Einzelne Krankenkassen, ja das ganze Krankenkassenwesen entstand unter Gesundheitsbedrohungen (Seu chen), die in ihrer Art viel schicksalhafter erschienen als die heutigen Zivilisationskrankheiten. Letztere sind oft Folgen des persönlichen Lebensstils (und der Gene). Der Lebensstil aber liegt in der Macht jedes Einzelnen und somit auch in dessen Verantwortung. Mit Seuchen ist oder scheint das zumindest nicht so. Nicht alle wur den Opfer, aber ob man krank wurde oder nicht, war sozusagen Schicksal gegeben. Wenn die Folgen solcher „Schicksalsschläge“ zudem die finanziellen Möglichkeiten des Einzelnen übersteigen, sind die „idealen“ Voraussetzungen für ein „Solidarversicherungswesen“ gegeben. Die Gesunden zahlen für die Kranken – sozusagen aus Dankbarkeit, dass sie nicht vom Schicksal getroffen wurden. Solidarversiche rungen gibt es deshalb nicht nur gegen Krankheit, sondern auch gegen Feuer, Elementarschäden usw. im Volksmund vorsätzliche Brandstiftungen zur Erschwindelung von Versicherungsgeldern genannt werden. Aus dieser Sicht handelt es sich dann bei jemandem, der wegen Überernährung und vollständig fehlender kör perlicher Bewegung krank wird, eben nicht um einen Schadenfall, sondern viel eher um Brandstiftung… Sobald bei den Ursachen für Schadenfälle Eigenverantwortung nicht ausgeschlossen werden kann, haben Versicherungslösungen als Solidargemeinschaften ihre Grenzen. So ist beispielsweise unbestritten, dass Verkehrsteilnehmer zwar schicksalhaft in Unfälle verwickelt werden können (= Solidarversicherungslösung), es ist aber ebenso unbestritten, dass bei Autofahrern das eigene Fahrverhalten, die Wahrscheinlichkeit, in einen Unfall verwickelt zu werden, beeinflusst (= Bonus-Malus-System). Da im Schadenfalle der Zusammenhang zwi schen Fahrverhalten und Unfall ausserdem festgestellt werden kann, werden „schuldhafte“ Fahrer mit einem Malus bestraft, während unfallfreies Fahren mit einem Bonus belohnt wird. Heute werden sogar ganze Bevölke rungsgruppen, die statistisch ein höheres Risikoverhalten aufweisen, mit höheren Prämien belegt. Offensicht lich lässt sich mit einer gezielten und begründeten Entsolidarisierung ein rentables Geschäft betreiben, was vom Krankenversicherungswesen ja nicht unbedingt gesagt werden kann… Wie Autoversicherung, so Krankenversicherung? Warum, so fragt sich manche(r), kann die Methode der Autohaftpflichtversicherung nicht auf die Krankenversi cherung übertragen und Personen mit Risikoverhalten mit einer höheren, eben risikogerechten Prämie belegt werden? Die Antwort ist eigentlich relativ einfach: ● Es ist wohl auch heute unmöglich und auch überhaupt nicht wünschenswert, das Verhalten jeder Person lau fend zu verfolgen und auf die Gesundheitsverträglichkeit zu prüfen. Auch im Autoverkehr wird ja zumindest bezüglich Versicherung nicht das Verhalten überprüft. Es wird vielmehr im Schadenfall der Kausalzusam menhang zwischen einer kurzfristigen Verhaltensweise (= z.B. fahren mit überhöhter Geschwindigkeit) und dem Schadenfall (= Unfall) überprüft – und gegebenenfalls mit einer Busse und einem Malus „bestraft“. Solidarhaftung stösst an Grenzen, wenn Verhaltensweisen die Schadenwahr scheinlichkeit beeinflussen und die Zusammenhänge zwischen Verhalten und entstandenem Schaden nachgewie sen werden können Derartige Versicherungen sind einerseits oft Einheitsversiche rungen, andererseits ist im Schadenfalle in der Regel völlig klar, dass es sich auch tatsächlich um einen Schadenfall han delt. Und falls es nicht absolut eindeutig ist, wird das sorgfältig abgeklärt, beispielsweise bei sog. „heissen Sanierungen“ wie lität so einfach mit physikalischen Gesetzmässigkeiten zweifelsfrei belegbar. Und ausserdem gibt es auch keine obrigkeitliche Instanz wie die Polizei, welche – aus Steuergeldern finanziert – die entsprechenden Untersuchungen durchführen würde. ● Krankheiten können im Gegensatz zu Schadenfällen im Autoverkehr aber auch ziemlich häufig auftreten, ohne dass ihnen – zumindest gemäss dem aktuellen Wissensstand – ein „Fehlverhalten“ zu Grunde liegt. Alte oder auch ganz junge Menschen beispielsweise werden häufiger krank als Erwachsene mittleren Alters, ohne dass ihnen ein direkt kausales Fehlverhalten zur Last gelegt werden kann. Mit anderen Worten: Es gibt ganze Bevölkerungssegmente, welche – zumindest grösstenteils – unabhängig vom Verhalten mit einem höheren Krankheitsrisiko behaftet sind. Im Krankenversicherungswesen gibt es eben nicht nur eine Solida rität zwischen Kranken und Gesunden, sondern auch eine Solidarität innerhalb des eigenen Lebenszyklus’: Jeder einzelne Versicherte bezahlt im jungen und mittleren Erwachsenenalter solidar mit sich selbst für sein eigenes, mit einem grösseren Krankheitsrisiko behaftetes Alter. Wie man bei der Schaffung des neuen Krankenversicherungsgesetzes (KVG) Mitte der Neunzigerjahre des letz ten Jahrhunderts allein angesichts dieses Umstandes überhaupt auf die Idee kam, dass ein freier und nicht mit Prämiennachteilen verbundener Wechsel der Krankenkasse zu irgendeiner Verbesserung führen würde, ist und bleibt schleierhaft. Die im neuen KVG gesetzlich vorgesehene Möglichkeit zum freien Wechsel der Krankenkasse ohne Prämien nachteile hat lediglich zur unseligen Marketing-Jagd nach guten Risiken geführt – beispielsweise nach Mitglie dern von Fitnesscentern… Die Fitnesskrankenkasse oder durch Entsolidarisierung zur Einheitskasse Mitglieder von Fitnesscentern sind gute Risiken. Dies ist mehrfach und gut belegt, deshalb machen auch die meisten Krankenversicherer Jagd auf diese guten Risiken, zumindest aber versuchen sie solche Mitglieder nicht zu verlieren. Man könnte den Spiess auch umdrehen und gleich eine eigene Kasse für Fitnesscentermit glieder gründen. Es ist offensichtlich, dass eine solche Krankenversicherung wesentlich billiger wäre – nicht nur wegen des tieferen Krankheitsrisikos der Mitglieder, sondern auch zusätzlich wegen der Tatsache, dass Fitnesscentermitglieder finanziell und gesundheitlich wohl weit eher in der Lage sind, höhere Kostenbeteili gungen zu übernehmen. Leider wäre dieses Glück nur von relativ kurzer Dauer; denn diese Krankenversicherung würde äusserst attrak tiv für einen Wechsel von einer anderen, teureren Krankenkasse. Teurer sind Krankenkassen aber v. a. auch, weil sie ein „schlechteres Versicherungsgut“ (= kostspielige Mitglieder = schlechte Risiken) aufweisen, womit das anfänglich günstige Gesamtrisiko der Fitnesskrankenkasse sich wieder in Richtung Normalität bewegen würde. Am Beispiel einer Fitnesskrankenkasse lesen Sie in der nächsten Ausgabe, welche Auswirkungen eine solche Entsolidarisierung sonst noch haben würde. Der Zusammenhang zwischen Fehlver halten und Krankheitsfall ist viel langfri stiger und kausal schlechter nachweis bar als im Strassenverkehr Im Gegensatz zu Unfällen im Autoverkehr sind bei Krank heitsfällen die Zusammenhänge mit einem allfälligen Fehl verhalten in der Regel weder kurzfristig noch ist die Kausa
qualitop
Made with FlippingBook Digital Proposal Maker