StarkVital Nr. 41 Magazin
Carmen Schiltknecht Kolumne KOLUMNE | Carmen Schiltknecht
ES IST SO...
Reisen ist essentiell, um andere Menschen und Kulturen besser zu verstehen. Da kann es sehr wertvoll sein, die Komfortzone des Smartphones und Co. beiseite zu lassen.
S
eptember 1975. Ich bin gerade mal 18 Jahre alt und fahre mit dem Zug nach Stuttgart. Mein Reiseziel ist London. Und weil England eine Insel ist, muss ich mit der Fähre über das Meer kommen, um dann die letzten Kilometer mit dem Zug zur Central Station zu fahren. Noch liegen etwa 750 km zwischen mir und der Weltmetropole. Meine Mutter hat mir erlaubt, mit dem selbst verdienten Geld beim Ferienjob meine Schulfreundin Natalie zu besuchen. Vor einem Jahr hat ihr Vater eine Stelle bei British Airways angetre ten, und die Familie kehrte in ihr Heimatland zurück. Noch dauert diese Abenteuerfahrt fünf Stunden und 20 Minuten. Meine Fingernägel habe ich zwischenzeitlich abgekaut, so nervös bin ich. Zum ersten Mal alleine unterwegs auf der Fahrt in ein fremdes Land, mit einer fremden Sprache. Natalies grosser Bru der soll mich am Bahnhof abholen. Was, wenn er mich nicht er kennt? Was, wenn wir uns verpassen? Ja, was wäre dann? Mein Herzschlag wird schneller, und ein Gefühl von ängstlicher Auf regung überkommt mich. Berauscht vom Fremdländischen Endlich. Ich stehe am Bahnhof und Tausende eilen an mir vorbei. Ich warte am Gleis. Doch weit und breit ist kein Bruder in Sicht. Handys gab es damals noch nicht, also stolpere ich völlig ver unsichert in eine schmuddelige Telefonkabine und versuche ver gebens, meine Freundin zu erreichen. Erschöpft und überfordert setze ich mich auf meinen Koffer und lass auf mich wirken, was ich sehe. Neonlichter, gigantische Reklameschilder, Menschenmassen. Ein Gewirr unterschiedlicher Sprachen, vielfältiger Kulturen, anders artiger Gerüche, die sich in der schwülen Luft vermischen. Hier brüllt ein Mann, da schreit ein Baby, jemand rumpelt mich an. Und dann passiert es: Eine Ekstase aus Hochgefühl, Neugier und zaghaft-schöner Anspannung überwältigt mich. Ich bin das erste Mal berauscht. Berauscht von der neuen Welt, dem Fremdlän dischen, das mich erwartet. Schon als Kind wollte ich in diese Millionenstadt reisen, alles Sehenswerte anschauen und mich auf das grosse Unbekannte einlassen. Und jetzt, wo ich hier auf dem Bahnsteig warte, ist es um mich geschehen. Ich bin high. «Selten fühlte ich mich so frei, so selbstbestimmt und stark wie dann, wenn ich alleine unterwegs war.»
Als Natalies Bruder reichlich verspätet von hinten seinen Arm um meine Schulter legt, hat sich jeglicher Ärger über sein Zuspät kommen in der feuchtwarmen Luft aufgelöst. Hochgefühl ganz ohne Smartphone Seitdem habe ich zahlreiche Reisen in ferne und nahe Länder ge macht und konnte «diesen Kick» immer wieder erleben. In man chen Destinationen brauchte ich Hände und Füsse, um mich zu verständigen und nach einigen Versuchen doch noch die richtige Strasse zu finden, vom besten Restaurant zu erfahren, das in kei nem Guide beschrieben ist oder andere wertvolle Geheimtipps von Einheimischen zu bekommen. Häufig gab es wertvolle Be gegnungen mit Menschen, die man dann doch nie wieder sieht, die einem aber in Erinnerung bleiben. Selten fühlte ich mich so frei, so selbstbestimmt und stark wie dann, wenn ich alleine unterwegs war. Heute, in Zeiten von Smartphones, Google Maps und Überset zungsdiensten ist es massiv schwieriger, solche High-Gefühle zu erfahren. So wertvoll die technischen Geräte auch sein mögen, die Rund-um-die-Uhr-Sofortlösung beraubt uns einzigartiger Empfin dungen und wertvoller Begegnungen. «Eine Ekstase aus Neugier, Hochgefühl und zaghaft-schöner Anspannung überwältigt mich.»
Coach, Autorin, Kolumnistin & Rednerin
www.carmen-schiltknecht.com carmen@carmen.schiltknecht.com
STARKVITAL 60+ Nr. 41
45
Made with FlippingBook. PDF to flipbook with ease