StarkVital Nr. 39

Carmen Schiltknecht Kolumne

KOLUMNE | Carmen Schiltknecht

ES IST SO...

Vor zehn Tagen ist ein langjähriger Freund gestorben. Er war 58. Er war so eine gute Seele. Es fiel mir schwer, die richtigen Worte zu finden. Obschon wir seit dem Tag unserer Geburt wissen, dass das Leben endlich ist, ist nichts ungewisser als die Stunde des Todes.

I

ch nahm das Telefon in die Hand und wählte ihre Nummer. Ein ungutes Gefühl plagte mich, weil ich sah, dass Martin die SMS-Nachrichten noch nicht gelesen hatte. In den Zeilen seiner letzten

darüber informiert zu werden? Mich zu verabschieden, meiner Anteilnahme Ausdruck zu verleihen und mit anderen Freunden gemeinsam zu trauern? Jeder trauert auf seine Weise Wieder rief ich Carla an und stellte ihr die Frage: «Was, wenn ich nicht angerufen hätte? Wann hättest du mich über den Tod von Martin informiert?» Sie sagte, dass sie gehofft habe, dass ich diese Frage stelle. Es sei der Wunsch von Martin gewesen, nie manden zu informieren. Sie liess mich wissen, dass nur drei Per sonen benachrichtigt wurden, und alle drei haben noch mit ihm gesprochen. Mehr konnte Martin nicht tun. Er war am Ende seiner Kräfte und die Trauer seiner Freunde machte ihn noch trauriger. Ich liess Carla wissen, dass ich wütend auf ihn sei. Und dass, wenn er noch unter uns wäre, ich ihm Folgendes gesagt hätte: «Lieber Martin, du bist seit vielen Jahren ein wichtiger Freund. Jetzt bist du nicht mehr auf Erden, doch die Erinnerung an dich bleibt. Ich hätte mir so gewünscht, dass du dich verabschiedest, nicht ein fach gehst. Selbst wenn das in eigenen Worten nicht mehr möglich war, hätte es mir geholfen, wenn Carla das in deinem Namen hätte machen dürfen.» Was nehme ich mit aus der Entscheidung meines Freundes, sich nicht zu verabschieden und keine Benachrichtigung zu senden? Diese Situation verlangte von mir einen Perspektivenwechsel. Auf meinem Spaziergang trat ich mit ihm in den Dialog. Dabei ist mir klar geworden, welches Geschenk er mir gemacht hat. Ich habe gelernt, dass jeder Mensch auf seine Art trauert. Es gibt kein Richtig oder Falsch. Ich bin dankbar, dass auch ich meinen Weg gefunden habe, zu trauern, wie es mir guttut.

Textnachricht schrieb er, dass er trotz allem nach vorne blicke, doch er äusserte auch, dass er unter massivsten Schmerzen litt. Dann vernahm ich ein schüchternes «Hallo, Carmen». «Entschul dige, Carla, dass ich so spät anrufe, doch ich mache mir Sorgen um Martin. Er liest die Nachrichten nicht, gibt kein Lebenszeichen», sage ich vorsichtig. «Er kann dir auch keine Nachricht mehr schreiben. Martin ist tot», antwortete sie. «Oh nein, nein, das darf nicht sein. Tot? Martin tot?», stotterte ich. Dieser Verlust von meinem langjährigen Freund schien mir völlig unwirklich. Ich sass wie versteinert auf dem Sofa, Tränen liefen mir übers Gesicht und ich war sprachlos. Sie erzählte, dass es vor zehn Tagen geschah. Dass die Diagnose Knochenkrebs vor vier Wochen gestellt wurde und dann alles ganz schnell ging. Denn es wurde klar, dass er dem Tod entgegenging. Er war so schwer krank, geplagt von intensiven Schmerzen, dass er entschied, mit Exit aus dem Leben zu scheiden. Allerdings hat sein Körper we nige Tage vor diesem Schritt freiwillig aufgegeben. «Ja, sein Tod war eine Befreiung für ihn. Doch als das Undenkbare eintraf, war ich im freien Fall. In den Tagen danach hoffte ich, dass alles nur ein furchtbar schlechter Traum ist. Nur langsam konnte ich ak zeptieren, dass es Wirklichkeit ist», erzählte sie mir vertrauens voll. Ihre Offenheit berührte mich, ich suchte nach passenden Worten und fühlte mit ihr. Carla ist seit 15 Monaten seine Freun din. Sie war für ihn da, bis er die Augen schloss. Intensive Emotionen Am Tag nach unserem Gespräch ging ich für einen Spaziergang in den Wald. Diese Stille war die passende Umgebung, um mich von Martin zu verabschieden. Ich erinnerte mich lebhaft an unsere zahlreichen Begegnungen, unterhaltsamen Gespräche und an seine lebensfrohe Art. Krankheit oder sonst eine Schwäche hat ten in seinem Leben keinen Platz. Selbst in seinem Beruf, er hatte eine führende Position in einem Grossunternehmen inne, gelang es ihm, die Freude und Sinnhaftigkeit seiner Tätigkeit über die anspruchsvollen Herausforderungen zu stellen. Ich sammelte Er innerungen an schöne Zeiten und erkannte, dass der Tod vieles durcheinander wirft. Auf einmal gibt es kein nächstes Mal mehr, kein «Ich freu mich auf unser nächstes Wiedersehen!». Als ich wieder zu Hause war, liess mich eine Frage nicht mehr los. Was, wenn ich Carla nicht angerufen hätte? Wann wollte sie mir sagen, dass Martin gestorben ist? Ich haderte mit mir, ihr diese Frage zu stellen. Doch je länger ich darüber nachdachte, je wütender wurde ich. Hatte ich als gute Freundin nicht das Recht,

Carmen Schiltknecht, 65 ROCK DAS ALTER Coach & Mentorin Podcasterin & Speakerin

www.carmen-schiltknecht.com carmen@carmen-schiltknecht.com

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