StarkVital Nr 37
Repor tage
Eine nützliche «Todeserfahrung»
Südkorea ist ein Land mit einem Rekord, dessen es sich gewiss nicht rühmen kann. Im Gegensatz zum weltwei ten rückläufigen Trend in den meisten Ländern der Welt (2000-2019) hat sich die Selbstmordrate im fernöstlichen Land in den letzten zwei Jahrzehnten fast verdoppelt. Südkorea steht seit mehr als zehn Jahren in Folge an erster Stelle der OECD-Länder bei den Selbstmordra ten, eine der höchsten sogar weltweit. Mit 26 Todesfällen pro 100'000 Einwohner:innen war Selbstmord im Jahr 2022 die sechsthäufigste Todesursache ( statista ), wobei die meisten Menschen, die sich das Leben nahmen, über 80 Jahre alt waren. Experten sind der Meinung, dass die extrem kompetitive Atmosphäre des Landes für so viele Fälle von Depression und Selbstmord verantwortlich ist. Der soziale Erfolgs druck ist enorm. Viele junge Südkoreaner:innen haben grosse Erwartungen in Bezug auf Bildung und Beschäfti gung, die jedoch durch die Abkühlung der Wirtschaft und die damit verbundene steigende Arbeitslosigkeit zunichte gemacht wurden. Trotz dieser Gegebenheit wollen sie ihre Eltern nicht enttäuschen. Das Selbstwertgefühl wird immer wieder auf die Probe gestellt, Unzufriedenheit und Depression lauern ständig. Für manche liegt die Antwort auf diese existentielle Krise in einer innovativen Art von Therapie: Die soge nannte «Todeserfahrung». Im Gegensatz zu dem, was der Begriff vermuten lässt, handelt es sich um eine völlig nicht invasive Behandlungsmethode für suizidgefährdete Patient:innen, die den Prozess dem tatsächlichen Tod irgendwie nachahmt. Zu diesem Zweck wurden Zentren zur Vorbereitung auf den Tod eröffnet. Die Teilnehmer:innen kommen aus allen Gesellschaftsschichten, darunter Teenager, die mit dem Druck in der Schule zu kämpfen haben, ältere Eltern, die sich einsam fühlen, und alte Menschen, die fürchten, ihren Familien finanziell zur Last zu fallen. Die Zeremo nie ist allen Leidenden ohne Einschränkungen gewid met. Auch ältere und unheilbar kranke Menschen sollen daran teilnehmen, offenbar in der Absicht, sich in einer Art Probe auf den Tod vorzubereiten. Diejenigen, die den simulierten Tod anstreben, können ihr Testament aufschreiben oder verfassen einen Abschieds brief an ihre Lieben und lesen ihre letzten Worte laut vor
der Gruppe vor, die an der Trauerfeier teilnimmt. Dann ziehen alle Todeskandidat:innen weisse Gewänder an und setzen sich in Holzsärge, die in Reihen angeordnet sind, wo sie einen kurzen Vortrag von einem ehemaligen Bestattungsunternehmer zuhören. Er erklärt ihnen, dass sie ihre Probleme als Teil des Lebens akzeptieren und versuchen sollten, auch in den schwierigsten Situationen Freude zu finden. Dann legen sie sich in den Sarg und schliessen die Augen, um ein Trauerporträt machen zu lassen. Wenn die «Stunde des Todes» naht, wird ihnen gesagt, dass es nun Zeit sei, «auf die andere Seite zu gehen». Der Deckel wird geschlossen. Sie werden etwa zehn Minuten lang in der Dunkelheit allein gelassen und mit der Vorstellung des Nichts im Jenseits konfrontiert. Sie werden ermutigt, diese Zeit zu nutzen, um über das Leben aus der Perspektive eines Aussenstehenden nachzudenken. Wenn sie schliesslich aus ihren Särgen auftauchen, fühlen sie sich angeblich erfrischt und befreit. Die vorgetäuschte Todeserfahrung hilft offenbar, das Leben trotz der damit verbundenen Schwierigkeiten nachher mehr zu schätzen. Ihre Absicht, sich das Leben zu nehmen, wird rückgängig gemacht. «Ihr habt gesehen, wie sich der Tod anfühlt. Ihr seid lebendig, und ihr müsst kämpfen», wird ihnen gesagt. Die meisten «Wiederauferstandenen» berichten tatsächlich, dass sie sich danach sehr ent spannt und positiv fühlen. Mit diesen Voraussetzungen, die existenzielle Motivation wieder zu erlangen, ist keine Illusion mehr. In ganz Südkorea gibt es mittlerweile mehrere Unterneh men, die solche simulierte Bestattungsdienste anbieten. Das Hyowon Healing Center in Seoul, das auch echte Beerdigungen durchführt, ist eines der bekanntesten. Seine bizarre Tätigkeit entstand als Reaktion auf das Problem der Selbstmorde in Südkorea und läuft nun schon seit etwa zehn Jahren. Das Geschäft blüht, an Interessent:innen, die in einer Lebenskrise stecken, man gelt es offenbar nicht. «Sobald man sich des Todes bewusst wird und ihn erfährt, beginnt man, das Leben neu zu bewerten.»
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STARKVITAL 60+ Nr. 37
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