StarkVital Nr. 31

Gesellschaft

PLAN 75, der Film, der ältere Menschen zum Zittern bringt Ein futuristisches Szenario zwischen Bürokratie und Ethik Die geplante Eliminierung älterer Menschen im Debütfilm der Japanerin Chie Hayakawa

Erweckung des Bewusstseins Chie Hayakawa filmt kompromisslos, in langsamem Tempo und in allen Einzelheiten, aber mit grossem Feingefühl die Ein samkeit dieses lästigen Alters, die müden Körper, die Kraftlo sigkeit und Melancholie, die die Blicke auffressen. Im Gegen satz dazu werden auch die Widersprüche des menschlichen Lebens präsentiert, die unvergängliche Fröhlichkeit und der Wille zum Leben, trotz fortgeschrittenen Alters. Diese ver bleibende Vitalität lässt den erzwungenen Selbstmord umso barbarischer erscheinen. In der persönlichen Geschichte der Protagonisten offenbart sich die Menschlichkeit, sowohl auf Seiten der Opfer als auch

Dieser Zukunftsfilm ist in Japan in der nahen Zukunft angesiedelt, wo ein Regierungsprogramm versucht, den nationalen Notstand einzudämmen: Die Überalterung der Bevölkerung (die übrigens die meisten Industrieländer betrifft). Die Regierung ist der Ansicht, dass Senior:innen ab 75 Jahren zu einer unnötigen Belastung für die Gesellschaft werden. Da ältere Menschen, die sich ohnehin nutzlos fühlen, Kos ten für die öffentliche Sozialfürsorge verursachen, wird ihnen die Möglichkeit geboten, beim Selbstmord Beihilfe zu leisten. Im Gegenzug erhalten die Senior:innen vor dem geplanten

Freitod eine finanzielle Belohnung, mit der sie sich einen letzten Wunsch erfüllen können. Selbstmordwil lige werden in einer speziellen Ein richtung untergebracht, wo sie von dafür geschultem Personal betreut werden. In dieser Situation wird die Wahl zwischen Leben und Tod eher zu einer bürokratischen als zu einer ethischen Frage. In Japan hat der Selbstmord sehr weit zurückliegende historische, kulturelle und religiöse Wurzeln und wird kulturell weder tabuisiert noch verurteilt wie im christlich gepräg ten Westen. Diese extreme Geste wird manchmal sogar als eine moralische Verpflichtung gegen über der Gemeinschaft. Alle über 75-Jährigen legal und industriell entsorgen? Ältere geächtet Dieses Projekt mit dem Namen PLAN 75, das als «Recht auf Sterbe

später, in der letzten Phase vor dem Suizid, auf Seiten der Ausführenden des Plans. Das Gewissen der jungen Generation wird geweckt, wenn die Menschen nicht mehr nur Nummern sind, sondern einzigartige Wesen, die nicht ausschliesslich auf ihren sozialen Status oder ihr Alter redu ziert werden. Wie ein junger Beamter im Film sagt: «Schliesslich sind es Menschen.» Chie Haykawa prangert mit diesem Zukunftsfilm die Härte der heutigen japanischen Gesellschaft an, die wie in allen entwickelten Ländern auf Leistung, Produktivität und Rentabi lität beruht, und die Notwendigkeit, Beziehungen zu erhalten, um die Menschlichkeit in uns zu bewahren. Der Film bietet jedem von uns die Gelegenheit, unabhängig von Her kunft, Kultur, Religion, Alter und per sönlicher Überzeugung, nachzuden ken.

hilfe» heuchlerisch verkauft wird, beruht auf scheinbare Frei willigkeit zu sterben, die in Wahrheit indirekt gesteuert wird. Ältere Menschen, die sich oft in finanziellen Schwierigkeiten befinden und allein sind, lassen sich von Agenten überzeugen, die nach Selbstmordkandidaten suchen. Man bietet ihnen Geld und menschliche Begleitung an, um ihrem Leben ein Ende zu setzen. Der Film unterstreicht die gnadenlose Effizienz der japa nischen Gesellschaft, die jeden Aspekt des Lebens durchdringt. Ihre gehorsamen Bürger fühlen sich verpflich tet, diesen morbiden Plan im Namen des kollektiven Inter esses widerspruchslos auszuführen. Der Film hinterfragt die Stellung der älteren Menschen in der japanischen Gesell schaft, konzentriert sich jedoch eher auf die noch lebenden Menschen als auf die Endphase des Plans. Der Film zeigt, wie die Alten geächtet, isoliert und oft in Armut gestürzt wer den, weil sie keine Altersrente erhalten, und wie die Scham sie davon abhält, Sozialhilfe zu beanspruchen. Ein erschreckender Verdacht: Beschreibt der Inhalt dieses Films die nahe Zukunft unserer Industrieländer?

Das Thema ist eigentlich nicht neu in Japan. Bereits ein ande rer japanischer Film von 1982 «Die Ballade des Narayama» beschreibt genau diese Endlösung der Alten im Mittelalter, wenn sie 69 werden. Andererseits wird die Leserschaft seit langem auf den US-Science-Fiction Film mit Charlton Heston "Soylent Green" aus dem Jahr 1973 hingewiesen, in dem die Welt in 50 Jahren, also heute (2023) zeigt. Während der Film von Chie Hayakawa einfühlsam die Zukunft alter Menschen aufzeigt, war in typischer Hollywood-Manier der Film mit Charlton Heston voller Action. Wie auch immer, beide Filme zeigen, wohin die Reise geht. Zwischen der Möglichkeit der freiwilligen selbstbestimm ten Exit-Variante für Senior:innen, die in der Schweiz schon lange gibt, und der staatlich verordneten TODE SPILLE ist der Schritt kurz. SCIENCE FICTION hat uns immer eingeholt: Man denke nur an das Buch «1984» von George Orwell. PLAN 75 wurde bei den Filmfestspielen von Cannes 2022 mit der Besonderen Erwähnung der Goldenen Kamera ausgezeichnet.

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STARKVITAL 60+ Nr. 31

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