Stark Vital Nr. 30

Gesund heit

Frauen stellen die Hälfte der Gesellschaft dar: bei der Geschlechterverteilung auf globaler Ebene sind Frauen und Männer ungefähr gleichmässig vertreten: bei der Geburt Frauen 49,5 Prozent, Männer 50,5 Prozent. Zwei Geschlechter, die sich durch bestimmte soma tische Merkmale unterscheiden und durch die Rolle, für die sie aus rein biologischer Sicht vorprogrammiert sind. Trotzdem bleibt in der Medizin auch heute noch der Mann als Prototyp aufgrund seiner dominanten Präsenz in der Geschichte und der Gesellschaft. Des halb gelten Symptome und Verlauf von Krankheiten beim männlichen Patienten als normal, während Sym ptome, die eher bei Frauen beobachtet werden, als atypisch eingestuft, d.h. von der Norm abweichend. Historisch gesehen hat die Medizin immer den Mann in den Mittelpunkt der Untersuchungen gestellt und die Gesundheit der Frau auf die reproduktiven Aspekte beschränkt. Klinische Studien werden über wiegend an Männern durchgeführt und deren Ergeb nisse gelten einfach für beide Geschlechter. Ausser dem berücksichtigen die Forschungen die soziokultu relle Dimension von Gesundheit oder Krankheit nicht. Einflüsse von Stress, Umwelt- und Lebensbedingun gen, deren Wahrnehmung sich bei Frauen und Män nern unterscheidet, bleiben aussen vor. Erst in jüngs ter Zeit ist deutlich geworden, wie die Entwicklung der Medizin auf dem falschen pseudowissenschaftlichen Vorurteil beruhte, dass Frauen sich von Männern nur durch Grösse und Gewicht unterscheiden würden. In der medizinischen Lehre wird der Faktor Geschlecht ebenso wenig diskutiert. Medizinstudierende lernen nicht, was Männer und Frauen unterscheidet, was sie bei Untersuchungen und in der medikamentösen The rapie bei beiden Geschlechtern berücksichtigen müs sen und wie die Kommunikation geschlechtssensibel an Patientinnen und Patienten angepasst werden sollte. Das biologisch wie auch das soziokulturell geprägte Geschlecht haben Auswirkungen auf Prävention, Diag nostik, Verlauf und Therapie von Krankheiten. Neu: Gender-Medizin an der Uni Zürich Die Universitäre Medizin Zürich initiiert das neue Fachgebiet Gender-Medizin (geschlechtsspezifische Medizin), ein Teilgebiet der Humanmedizin, das bio logische sowie soziokulturelle Unterschiede zwischen Frauen und Männern berücksichtigt, wobei der Ein fluss dieser Faktoren auf Gesundheit und Krankheit sowie auf das Ansprechen auf eine Behandlung im Mittelpunkt stehen. Der neue Lehrstuhl für Gender-Medizin an der Univer sität Zürich soll spätestens bis Anfang 2024 besetzt werden. Mit der Professur wird der Ausbau der geschlechtsspezifischen und interdisziplinären For schung und Lehre gemeinsam mit den vier Schweizer universitären Spitälern angestrebt. Es ist eine Premiere in der Schweiz. Ziel des Weiterbildungsstudiengang ist es, Ärzt:innen für die spezifischen Unterschiede in der Diagnose und Behandlung zu sensibilisieren und sie auf dem neuesten Stand der Forschung zu halten. Gender-Medizin Ein neues Fachgebiet

Die längerfristige Vision ist es, sogar ein Institut für Gender-Medizin an der Universität Zürich zu gründen. «Die Integration von Sex- und Gen der-Analysen in die medizinische For schung und klinische Praxis stellt sicher, dass jeder in der gesamten Gesellschaft von einer hervorragenden Gesundheitsversorgung profitiert.» Professor Londa Schiebinger, Stanford University Geschlecht und Krankheit Es sei zwar bekannt, dass Frauen und Männer unter schiedlich erkranken und ungleich auf Medikamente reagieren, erklärt Prof. Dr. med. Cathérine Gebhard vom Zürcher Universitätsspital, die seit mehreren Jah ren auf diesem Gebiet tätig ist. Ein Beispiel für das Risiko einer Fehldiagnose aufgrund von geschlechts spezifischen Vorurteilen ist der Herzinfarkt, der immer noch als typische Männerkrankheit angesehen wird. Kaum bekannt ist, dass Herzinfarkte bei Frauen häufig andere Symptome hervorrufen. «Dies führt dazu, dass Herzinfarkte bei Frauen oft nicht richtig eingeschätzt und erkannt werden und wertvolle Zeit vergeht, bis medizinische Hilfe in Anspruch genommen wird», so Cathérine Gebhard. Den umgekehrten Fall gebe es auch, dieser sei aber eher selten. Bei «typischen» Frau enkrankheiten wie etwa der Osteoporose sei der Mann das unter-, beziehungsweise fehlversorgte Geschlecht. Dennoch fliessen die neuen Erkenntnisse nur langsam in die eigentliche Behandlung von Patient:innen ein. Auch bei der Wirkung von Medikamenten gibt es Unter schiede je nach Geschlecht. Wirkstoffe werden im weib lichen Körper häufig langsamer abgebaut. Dennoch sind Frauen in Arzneimittelstudien nach wie vor unter repräsentiert. Analysierte Zahlen der US-Arzneimittelbe hörde FDA für die Periode 2004 bis 2013 zeigen, dass bei Frauen über 50 Prozent häufiger unerwünschte Wir kungen nach Medikamenteneinnahmen auftreten als bei Männern. Geschlechtsunterschiede machen sich in vielen Erkrankungen bemerkbar. Das Risiko an Alz heimer-Demenz zu erkranken oder an einem erlittenen Herzinfarkt zu sterben ist für Frauen deutlich höher als für Männer. Zudem leiden Frauen häufiger an Schilddrü senerkrankungen, Rheuma und Störungen des Immun systems. Dagegen sind mehr Männer von Morbus Par kinson betroffen und sterben häufiger an COVID-19. «Verhelfen wir der Gender-Medizin zum Durchbruch, um Menschen gezielter und effizienter behandeln zu können!»

Prof. Dr. Beatrice Beck Schimmer, Direktorin Universitäre Medizin Zürich

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STARKVITAL 60+ Nr. 30

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