Stark Vital Nr. 28

Repor tage

Einige Merkmale der japanischen Gesellschaft haben ausgesprochen bedenkliche soziale Auswirkungen, über die jedoch oft kaum gesprochen wird. Eine davon ist die Situation der älteren Menschen. Jüngs ten Schätzungen zufolge hat Japan weltweit mit mehr als einem Viertel der Bürger:innen im Alter von 65+ der grösste Anteil dieser Altersgruppe an der Bevöl kerung. 2020 waren es 28,4 Prozent * gegen 18,8 Pro zent der Schweiz * . * statista.com Japan Wenn ältere Menschen stehlen

Zunehmende Zahl älterer Häftlinge veranlasst die Behörden zum Bau geriatrischer Abteilungen

Allein die Kosten für Miete, Lebensmittel und Gesund heitsfürsorge führen zu einer Verschuldung der Rentenempfänger:innen, wenn sie kein zusätzliches Ein kommen haben - und das, bevor sie für Heizung oder Kleidung bezahlt haben. Früher war es üblich, dass sich die Kinder um ihre Eltern kümmerten, aber in abgelege nen Gegenden hat der Mangel an wirtschaftlichen Mög lichkeiten dazu geführt, dass viele jüngere Menschen wegziehen, um Arbeit zu suchen, und ihre Eltern sich selbst überlassen. Die Rentner:innen wollen wiederum ihren Kindern nicht zur Last fallen und meinen, wenn sie nicht von der staatlichen Rente leben können, dann ist

die einzige Alternative, sich selbst ins Gefäng nis zu bringen, wo sie etwas Schutz finden. Es sollte auch beachtet werden, dass Selbst mord unter anderem bei Senior:innen in Japan immer häufi ger anzutreffen ist, als verzweifelter Ausweg, um Familienmitglieder nicht zu belasten. Andererseits wenn ältere Häftlinge wieder aus dem Gefängnis kommen, taucht das Problem früher oder später erneut auf.

Auch die Wahrneh mung der Senior:innen hat sich im fernöstli chen Land im Laufe der Zeit zunehmend verändert. In der Ver gangenheit sah die japanische Kultur in den älteren Menschen die Verfechter der Tra ditionen, eine Rolle, die sie an die Spitze der sozialen Pyra mide stellte. Davon scheint heute keine Spur mehr übrig zu sein: die neue fort schrittliche Wirtschaft

hat dazu geführt, dass ältere Menschen immer mehr vereinsamen, an den Rand gedrängt und von ihren Verwandten vermehrt im Stich gelassen werden, oft überfordert von der Hektik des modernen Lebens. Etwa die Hälfte der Senior:innen lebt allein, die andere Hälfte hat nur sporadische Beziehungen zu ihren Ver wandten und praktisch niemanden, an den sie sich im Notfall wenden kann. Von Senior:innen begangene Diebstähle: Der gegenwärtige Trend in der japanischen Kriminalitätsszene Die alternde Bevölkerung hat das japanische Finanz system bereits unter Druck gesetzt. Doch in letzter Zeit hat sich ein weiterer unerwarteter Trend entwickelt: In einer bemerkenswert gesetzestreuen Gesellschaft wird ein schnell wachsender Anteil der Straftaten, oft Bagatelldelikte, von über 65-Jährigen begangen. Die Kriminalitätsrate älterer Menschen hat sich in den letz ten Jahrzehnten vervierfacht. Im Jahr 1997 entfiel etwa eine von 20 Verurteilungen auf diese Altersgruppe, aber 20 Jahre später, imk 2017 war die Zahl enorm angestie gen. Heute machen die 65+ Senior:innen mehr als ein Viertel der Gesamtbevölkerung aus, von 125 Mio, ca. 36 Mio ., während in den Gefängnissen sogar einer von fünf Insassen ein älterer Mensch ist. Und in vielen Fällen ist das Verbrechen, das sie ins Gefängnis bringt, ein kleiner Ladendiebstahl.

Daher sind Rückfälle keine Seltenheit, denn eine Rück kehr ins Gefängnis bedeutet sicherlich drei anständige Mahlzeiten am Tag wie auch kostenlose medizinische Betreuung. Im Grunde alles, was gewissen Senior:innen im täglichen Leben fehlt. Im Knast erhalten sie keine Rechnungen zur Bezahlung, können umsonst woh nen und wenn sie rauskommen, haben sie etwas Geld gespart, da die Rente weiter gezahlt wird. Analysten glauben jedoch, dass Rentenemp fänger:innen nicht aufgrund von Armut in die Kri minalität getrieben werden, was eher ein Vorwand erscheint. Der Kern des Problems sei wohl die verbrei tete Einsamkeit. Und ein Faktor, der zu einer erneuten Straftat führen könnte, wäre in diesem Sinne die Aus sicht auf Gesellschaft im Gefängnis. Vor dem Hintergrund dieser neuen Tatsache steigen die Kosten für die Inhaftierung der Senior:innen, die sich einer Straftat schuldig gemacht haben, rapide an. Die neue Gegebenheit erforderte sogar die Einstellung von spezialisierten Mitarbeiter, die älteren Insassen tags über beim Baden und Toilettengang helfen. Im Jahr 2016 verabschiedete das japanische Parlament ein Gesetz, mit dem sichergestellt werden soll, dass rück fällige Senior:innen von den Wohlfahrts- und Sozialsys temen des Landes unterstützt werden. Seitdem arbeiten Staatsanwaltschaften und Gefängnisse eng mit staatli chen Stellen zusammen, um älteren Straftäter:innen die notwendige Unterstützung zukommen zu lassen.

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STARKVITAL 60+ Nr. 28

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