Stark Vital Nr. 26

Carmen Schiltknecht Kolumne KOLUMNE | Carmen Schildknecht

ES IST SO...

Endlich ist die Zeit da, um zu leben. Doch unsere Autorin hat ihre Zweifel, dass Leben aufgeschoben werden kann.

E

Ehrlich gesagt gefällt mir das Wort «endlich» nicht wirklich. Wahrscheinlich deshalb, weil es die Unge duld über langes Warten ausdrückt und diesen Hauch von Endlichkeit spürbar ist. Vor zwei Wochen war ich mit einem Freund beim Nachtessen. Wir waren noch nicht beim Hauptgang, da fragte er mich nach meinen Zukunftsplänen. Weil ich stockte, erzählte er mir von seinen Vorhaben, die er nun als Früh-Pensionär endlich wahr machen wollte: Endlich will er leben. Endlich einen Surfkurs machen, endlich die lang geplante Reise mit dem Caravan die Côte d’Azur entlang, endlich Zeit für Golf, endlich die Wohnung neu einrichten, endlich mal was mit dem Enkel unternehmen und in drei Jahren würde er und seine Frau endlich wegziehen, um nah am Meer zu leben. Das klang wie eine «Bucket List», die dafür steht was man in seinem Leben noch alles erledigen möchte, be vor es zu spät ist. Ich wurde immer leiser. Fühlte mich zunehmend unwohl und ein Gefühl der Irritation wurde in mir wach. Denn eine «Bucket List» habe ich nicht gemacht. Ich ging nach Hause und seine Endlich-Auflistung ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Beim gedanklichen Kassensturz des ver gangenen Jahres stellte ich fest, dass ich die, die mir lieb sind, getroffen hatte. Bin ihnen im Gespräch und bei geteilten Erleb nissen nähergekommen, und wir haben beglückende Erfahrungen gewonnen. Meine Wohnung, ein Kraftort, habe ich in Farben und mit ausge wählten Objekten gestaltet, die mir gute Laune machen und mir ein Wohlgefühl schenken. Mein Wunsch nach einem Studium zum Coach habe ich mir erfüllt und dabei viel über mich selbst er fahren. Nach der äusseren Freiheit habe ich mich für eine innere Freiheit entschieden. Manchmal gönnte ich mir sogar Lange Weile, was dazu führte, dass mein Gehirn Ruhepausen genoss und freien Raum hatte, um Neues zu denken. Wer bin ich heute eigentlich? Welchen Sinn, der auch die nächs ten Jahre überdauert, gebe ich meinem Leben? Was gibt mir Kraft? Was nimmt mir Energie? Worum geht es eigentlich? Ich habe an mir selbst erfahren, wie hilfreich es ist, sich mit sei nem Wesen und dem was für einen selbst das Wesentliche ist, auseinanderzusetzen. Wir wollen doch alle das Leben finden, das zu uns passt. Und ehrlich, gibt es eine wertvollere Reise, als die zu sich selbst? Wenn ich eines gelernt habe, ist es, nichts aufzuschieben. Das Leben sollte sich einfach, leicht und klar anfühlen. Leicht – so

fühl ich mich, wenn ich im Flow bin. Eins, mit dem, was ich ge rade tu, mit der Umgebung, in der ich mich befinde oder mit den Menschen, mit denen ich bin.

«Welchen Sinn, der auch die nächsten Jahre überdauert, gebe ich meinem Leben?»

Auf einer Tasse habe ich den Spruch gelesen WITH AGE COMES WISDOM – mit dem Alter kommt die Weisheit. Doch im Ernst, müssen wir wirklich bis ins hohe Alter warten, um weise zu werden? Oder ist es nicht so, dass Weisheit – also das Nach denken über Wesentliches – sogar glücklich machen kann und weit früher als im letzten Lebensjahrzehnt möglich ist? Die Zeit ist kostbar, und so viel Lebenszeit haben wir alle gar nicht. Klar, man kann entscheiden, das Leben aufzuschieben und erst mal alle Pflichten und Aufgaben erfüllen und den Regeln folgen. Doch hallo, wo bleibt die Freiheit, zu jeder Zeit die Verantwortung für ein selbstgestaltetes Leben zu übernehmen? Ich denke an meinen Freund, der nun endlich leben will und seine «Bucket List» umsetzen möchte. Ich frage mich, warum Men schen ihr Leben aufschieben? Denn wie bitte will man nicht gelebtes Leben nachholen? Das Leben hat doch immer nur das Jetzt, das gelebt werden will.

Carmen Schiltknecht, 65 ROCK DAS ALTER Coach & Mentor Podcasterin & Speakerin

www.carmen-schiltknecht.com carmen@carmen-schiltknecht.com

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STARKVITAL 60+ Nr. 26

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