SV 35

Gesell schaft

Krankenversicherung Ein solidarisches Konstrukt? «Ich bin versichert, aber habe nicht die Mittel, um mich behandeln zu lassen» Die Krankenversicherung ist seit dem ersten Januar 1996 für alle Einwohner:innen der Schweiz obligatorisch. Bei welcher Krankenkasse sie sich versichern wollen, ist ihnen freigestellt, ebenso wie das Versicherungsmodell, für das sie sich entscheiden. Unabhängig von der per sönlichen Wahl, Tatsache ist, dass die Rechnung der Krankenkasse jeden Monat pünktlich kommt und pünkt lich bezahlt werden muss. Auch der Selbstbehalt kann je nach Bedarf gewählt wer den: Er reicht von mindestens 300 bis maximal 2'500 Fran ken. Ursprünglich war die höhere Franchise für gesunde Menschen gedacht, die keine besondere Betreuung benö tigen. Im Laufe der Zeit hat sie sich jedoch zu einer unver zichtbaren Option für Versicherte entwickelt, die sich keine noch höheren Monatsprämien leisten können, denn je höher die Selbstbeteiligung, desto niedriger die Prämie. Bei einer medizinischen Behandlung müssen die Versicherten zusätzlich zum Selbstbehalt zehn Prozent der Rechnung bis zu einem Höchstbetrag von 700 Franken pro Jahr überneh men. Wenn ein Versicherter also den maximalen Selbstbe halt von 2'500 Franken hat und sich in ärztliche Behandlung begibt, muss er auch zusätzlich den Anteil von 700 Fran

Prof. Idris Guessous Chefarzt Abteilung für Hausarzt medizin beim HUG, Hôpitaux Universitaires de Genève

um über die Runden zu kommen und betrachtet medizinische Ver sorgung oft als Luxus. Prof. Gues sous stellt fest, dass von unter den

Geringverdienern in der gesamten Genfer Bevölkerung mehr als 30 Prozent auf medizinische Versorgung verzich ten und prangert die Ungleichheit an: «Alle Bürger:innen beteiligen sich an der Finanzierung der (obligatorischen) Gesundheitsversorgung, aber NICHT ALLE HABEN ZUGANG DAZU.» «Eine unerträgliche Tatsache in einem Gesundheitssystem, das sich selbst als solidarisch versteht. Und das in der reichen Schweiz.» Prof. Guessous fügt hinzu, mit der maximalen Selbstbetei ligung hoffe das System, dass entweder auf eine Behand lung verzichtet werde oder sonst aus eigener Tasche bezahlt werde. Damit solle die Überversorgung reguliert werden. Es sei das System selbst, das hoffe, Geld zu spa ren - auf Kosten der Versicherten.

ken aus der eigenen Tasche bezahlen, so dass sich die Gesamtkosten in einem Jahr bis auf 3'200 Fran ken belaufen können. Nicht gerade ein Almosen. Verzicht auf eine Behandlung Die Berechnung ist schnell gemacht. Für diejenigen, die nicht über die finan ziellen Mittel verfügen, ist dieser Betrag eine untrag bare Belastung. Aus die sem Grund verzichten viele Menschen, die die maxi male Franchise haben, auf eine Behandlung. Dies ist

Genau aus diesem Grund muss eine tiefere Franchise der eigenen Krankenkasse bis Ende November mitge teilt werden, während die Wahl einer höheren Fran chise bis Ende Dezember gemeldet werden kann. In diesem Fall wird mehr Zeit für die Entscheidung eingeräumt, denn höhere Selbstbehalte, vor allem der Maximale, versprechen mehr Einsparungen für die Krankenversicherer, die es ihnen ermöglichen, Reser ven zu bilden und ev. die Löhne zu erhöhen. Gemäss den Zahlen des

Vielen fehlt das Geld, um die KK Prämien zu zahlen. So wählen immer mehr die höchste Fran chise, um weniger zu zahlen. Lei der gehen viele auch nicht zum Arzt, um Geld zu sparen oder viel zu spät. Viele STERBEN unnötig oder viel zu früh! Wo bleibt da die viel zitierte SOLIDARITÄT ?

ein alarmierendes Phänomen, das sich mit dem unauf haltsamen Anstieg der Krankenkassenprämien, die sich in unzumutbaren Masse auf die Gehälter auswirken, weiter verschlimmert. Zum Arzt zu gehen kann manchmal bedeu ten, den ganzen Monat lang Nudeln zu essen. Prof. Idris Guessous, Chefarzt Abteilung für Hausarztme dizin beim HUG, Hôpitaux Universitaires de Genève, sagte in der Sendung RTS Temps présent , dass um niedrigere Prämien zu zahlen, bereits 36 Prozent der Versicherten in der Schweiz die maximale Franchise haben. Der Verzicht auf Behandlung ist nicht nur das Vorrecht bescheidener Gehälter, auch die Mittelschicht schnallt den Gürtel enger,

Schweizerischen Observatoriums (Obsan), die auf einer inter nationalen Umfrage basieren, verzichtet fast jeder vierte Ver sicherte landesweit auf eine Behandlung. Symptome wer den bewusst vernachlässigt und Schmerzen aufopfernd ertragen, um Geld zu sparen, denn das Geld ist nicht da. Aber durch das Hinauszögern einer ärztlichen Konsulta tion kann sich das Krankheitsbild noch verschlimmern, bis es sogar lebensbedrohlich werden kann. Das Risiko von Komplikationen sollte nicht unterschätzt werden: Wenn nicht schnell gehandelt wird, kann die Gesundheit gefähr det werden und die Heilungskosten steigen. Der Onkologe Dr. Franco Cavalli hatte schon vor einiger Zeit über Erfah rungen mit Versicherten mit hohem Selbstbehalt öffent lich berichtet. Es sei ihm schon mehrmals passiert, dass

12

STARKVITAL 60+ Nr. 35

Made with FlippingBook. PDF to flipbook with ease